Sexueller Missbrauch in Kirche und Gesellschaft

Die evangelische Kirche hatte sich bisher als diejenige gefeiert, die weniger Missbrauchsdreck am Stecken habe als die katholische Kirche. Die Ergebnisse einer Studie sind niederschmetternd: Mindestens 2225 Kinder und Jugendliche waren betroffen. Sexueller Missbrauch ist nicht nur in einer Kirche mit Zölibat ein Problem.

IMAGO

Sexueller Missbrauch war und ist weiter verbreitet, als viele Menschen wahrhaben wollen. Untersuchungen weisen darauf hin, dass bis zu 10 Prozent der Bevölkerung schwere Missbrauchsübergriffe am eigenen Leib erleiden mussten.

Sexuelle Gewalt geschieht häufig im familiären Umkreis, in christlich, atheistisch, muslimisch oder sonstwie geprägten Familien und Verwandschaften. Darüber hinaus in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft:

  • in Sportvereinen,
  • am Arbeitsplatz,
  • an Schule und Universität,
  • in buddhistischen Gemeinschaften,
  • im psychotherapeutischen Kontext,
  • in stationären Einrichtungen aller Art,
  • in Moscheen und Kirchen.

Es besteht die Versuchung, diese traumatischen Erlebnisse unter den Teppich zu kehren. Ein kleiner Anteil an Tätern oder Opfern kann sich bewusst überhaupt nicht mehr an die Ereignisse erinnern. Zumindest an der Oberfläche scheint dann Verdrängung und Verleugnung zu funktionieren. Doch das Unterbewusste lässt sich nicht täuschen.

Auch gesellschaftlich besteht eine mehr oder weniger verständliche Tendenz, sich lieber nicht mit diesem üblen Thema beschäftigen zu müssen. Gerade Kirche mit einer harmonieorientierten Kultur der Kritikunfähigkeit tut sich schwer mit der Aufklärung von Missständen. Die Verweigerung bei der Aufarbeitung ist allerdings ebenfalls verletzend, was zu einer erneuten Traumatisierung der Opfer beitragen kann.

Gegen alle Kräfte des Stillschweigens ist in den letzten Jahrzehnten die Sensibilität und Sprachbereitschaft beim Thema sexualisierter Gewalt gewachsen. Dazu haben maßgeblich die Selbsthilfeinitiativen von Betroffenen beigetragen. Mit oft jahrzehntelangem Kämpfergeist sind sie für ihre wichtigen Anliegen eingetreten. „Heilung durch Erinnerung“ ist ein langer persönlicher und gesellschaftlicher Prozess.

Die Betroffenen haben bisher einiges erreicht: Personalakten von Mitarbeitern, bei denen der Vorwurf eines sexuellen Missbrauchs im Raum steht, dürfen nicht nach den üblichen Aufbewahrungsfristen vernichtet werden; bereits im Kindergarten werden Mutmachkurse durchgeführt „Mein Körper gehört mir – ein Nein ist ein Nein“; einige Entschädigungszahlungen sind geflossen.

Es muss erwähnt werden, dass es auch Selbsthilfegruppen für Menschen gibt, die unberechtigter Weise des sexuellen Übergriffs beschuldigt werden. Falschverdächtigungen bringen ebenfalls schwerwiegende soziale und psychische Folgen mit sich. Machtmissbrauch als menschliche Konstante ist ein hochkomplexes und hochdiffuses Phänomen.

Viele katholische Bistümer hatten sich aufgrund bekanntgewordener Missbrauchsfälle in den eigenen Reihen dazu bereiterklärt, Untersuchungen ihrer Mitarbeiter durch externe neutrale Gutachter durchzuführen. Der Druck auf die katholischen Kirche ist enorm. Sie ist in unserer Gesellschaft wegen der Zölibatsforderung gegenüber ihren Priestern und wegen ihrer konservativen Sexualmoral ein beliebtes Ziel vermeintlich progressiver Kritik. Die katholische Kirche bietet sich als idealer gesellschaftlicher Sündenbock beim Missbrauchsthema an. Wenn man mit dem Zeigefinger auf die Verbrechen der anderen, der vermeintlich Sexuell-Rückständigen zeigen kann, dann braucht man sich nicht mit den eigenen dunklen Seiten zu beschäftigen.

Jetzt hat sich auch die Evangelische Kirche in Deutschland mit all ihren Landeskirchen freiwillig einer breit angelegten Untersuchung durch externe Gutachter unterzogen („ForuM-Studie“). Dabei ging es ab 1946 nicht nur um Pfarrpersonal, sondern auch um hauptamtliche und sogar ehrenamtliche Mitarbeiter.

Die evangelische Kirche hatte sich bisher tendenziell als die bessere Kirche gefeiert, die weniger Missbrauchsdreck am Stecken habe als die katholische Kirche. Das ist bereits im Ansatz eine tückische Haltung, die nicht zu einer offenen Wahrnehmung führt, sondern zu Vertuschungen, um das eigene abgehobene Selbstbild aufrechterhalten zu können. Geblendet von der Sonne der Selbstgerechtigkeit vermag man nicht mehr die Missstände bei sich selbst erkennen.

Die Ergebnisse der Studie für die evangelische Kirche sind niederschmetternd. Mindestens 2225 Kinder und Jugendliche waren betroffen. Zwei Drittel der Täter waren bei ihrer Ersttat verheiratet. Sexueller Missbrauch ist nicht nur in einer Kirche mit Zölibat ein Problem.

Doch diese Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs, denn der Koordinator der Studie, Prof. Martin Wazlawik, kritisierte die verzögerte und unvollständige Bereitstellung der Akten. Die neue EKD-Ratsvorsitzende, die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, stimmt dem zu: „Klar ist: Wir haben täterstützende Strukturen.“ Der Personaldezernent der rheinischen Landeskirche sieht das anders. Man hätte ihm nur sagen müssen, wo er die LKW-Ladungen an Personal-Aktenordnern hätte hinbringen sollen.

Für mich bleibt ein dreifaches Zwischenfazit:

Erstens: Es findet meine Achtung, dass die beiden großen Kirchen dieses Thema angehen und versuchen, auch weit rückwirkend für die Vergangenheit Licht in die Dunkelheit zu bringen. In meiner rheinischen Landeskirche werden mittlerweile alle hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter verpflichtend zum Thema geschult und sensibilisiert. Bei Verdachtsfällen gibt es eine differenzierte Handlungsanweisung als verbindlichen Leitfaden.

Zweitens: Es muss besser werden mit der Aufarbeitung. Alle Kirchenfunktionäre betonen immer wieder, wie wichtig ihnen das Thema sei. Doch die Kritikpunkte der Betroffenen und die neue Studie zeigen, dass die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs ein hochdiffiziler Prozess ist mit dem Teufel im Detail.

Drittens: Unsere Gesellschaft sollte es sich nicht zu leicht machen, indem sie nach diesen Kirchenuntersuchungen empört und pharisäisch mit dem Zeigefinger auf die Kirchen zeigt. So kann man es schon im Kindergarten lernen: „Wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, der zeigt mit drei Fingern auf sich selber.“ Sexueller Missbrauch und seine Vertuschung ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.

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Kommentare ( 10 )

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Andreas Meier
10 Monate her

Wer nicht die Sünden der Vergangenheit aufarbeitet, wird sie wiederholen. Allerdings: Eine Sünde, die im Bewußtsein, daß es eine Sünde ist, absichtlich begangen wurde, dafür ist Christi Vergebung nicht möglich. In der Heiligen Schrift wird eindeutig gesagt, daß es eine ewige Trennung von Gott gibt… Autsch. Das Alte Testament ist zwar Israel gegeben, aber vom gleichen Gott. Daher ist es genauso erheblich für uns. Es gibt im AT ganz eindeutig Sünden, die ohne Tempel-Opfer sind: Der Täter mußte gesteinigt werden. Steinigung ist ein Ausschluß aus der Gemeinschaft des Volkes Gottes. Und es war bekannt, daß es so durchgeführt wurde. Für… Mehr

Deutscher
10 Monate her

Lieber Herr Zorn, Missbrauch mag es überall geben. Der Unterschied ist aber, dass die Kirchen sich seit jeher als besondere Hüter der Moral aufspielen, gerade in sexuellen Dingen. Zum üblen Missbrauch kommt also die üble Doppelmoral.

Last edited 10 Monate her by Deutscher
Axel Fachtan
10 Monate her

Sexuellen Missbrauch gab es schon vor Christus. Also ist es ja wohl etwas missverständlich, das Christentum als „Haupt“ursache von sexuellem Missbrauch darzustellen. Wer generell dem Christentum an Leder will, wird das so darzustellen versuchen. Christentum hält längst nicht immer die eigenen Wertvorstellungen ein. Aber woher kommen denn die Wertvorstellungen unserer Gesellschaften, wenn nicht aus dem Christentum ? Das Christentum schafft Wertvorstellungen, die der einzelne Christ längst nicht immer einhalten kann. Wo aber wäre wir ohne verlässliche Werteordnung ? Mal so ein kleines Beispiel: in der griechischen Welt galt der Schenkelverkehr eines Mannes mit einem Knaben als zulässiges Vergnügen. Das wird… Mehr

wolfdieter
10 Monate her

Was spricht gegen einen Vertrag zwischen Staat und Kirche? Die Kirchensteuer ist tatsächlich nicht Steuer, nur weil vom Staat eingetrieben, sondern Vereinsbeitrag; das Eintreiben dessen ist Dienstleistung, die die Kirche dem Staat vergütet; mit einfacher Erklärung können Sie aus dem Verein austreten.

Flik Flak
10 Monate her

Es gibt offensichtlich Opfer und es gibt Täter. Seit Jahren und Jahrzehnten höre ich von Missbrauch. Die Opfer sollen sich äussern, die Staatsanwaltschaften sollen ermitteln und die die ordentlichen Gerichte werden Urteile sprechen.

Langsam, aber sicher, geht mir dieses nebulöse Gesülze auf die Nerven.

achijah
10 Monate her
Antworten an  Flik Flak

Es ist gut, wenn die Kirchen über die strafrechtlichen Verfahren hinaus das Thema für ihre Institutionen aufarbeiten. Vergleichbar mit einer Aufarbeitung der NS-Verwicklingen über das Strafrechtliche hinaus.

Mausi
10 Monate her

Auch der Mißbrauch durch Menschenhandel sollte nicht vergessen werden. Wie hoch mögen da die Zahlen sein? Das Schlimme in D ist, dass Kinder werden bei uns durch staatliche Erziehung mißbraucht werden. Und sie erhalten durch den Gesetzgeber Möglichkeiten, die ihnen viel zu einfach offen stehen. Oder die dafür sorgen, dass Ärzte bzw. diejenigen, die an Ärztepraxen verdienen, plötzlich eine neue Einnahmequelle entdecken. Das Mäntelchen, das immer mal wieder darüber gebreitet wird, heißt Internetmauern gegen Kinderpornographie. Aber wer sich bei einem Blogger informiert, der etwas von IT versteht, der hat auch verstanden, dass unsere Politiker und auch die der EU davon… Mehr

Last edited 10 Monate her by Mausi
Dr_Dolittle
10 Monate her

Mir fehlen in Ihrer Aufzählung die Klimakirche, die LGBTQ+-Kirche, die Coronakirche und die progressive Oberkirchenholding Wokismus. Neigen allerdings alle nicht zur Selbstreflexion.

rainer erich
10 Monate her

Ein mindestens gleichermaßen “ interessanter“ Taeterkreis besteht aus Mitgliedern, die in bestimmte Milieus hineinreichen. Da darf man so Namen wie Cohn Bendit aus einer bestimmten ideologischen Ecke erwähnen, aber auch Namen wie Epstein und seine prominenten Freunde. Paedophilie ist nicht nur ein Thema bestimmter, dafuer prädestinierter Gruppen, sondern auch ein Merkmal bestimmter Dekadenz und Verwahrlosung, deutlich ausgeprägt in einschlägigen, elitaer genannten, Kreisen. Man, in der Regel politisch und juristisch auch wegen Mittaeterschaft, zumindest Mitwisserschaft, abgeschirmt, laesst sich den Nachwuchs der Untertanen zu seinem paedophilen Vergnügen liefern. Das Interesse der Untertanen, auch der ( medialen) Öffentlichkeit, haelt sich in engen Grenzen.… Mehr